Liebenswert: „Meine Tochter will ein Junge sein“

Claudia kann zunächst nicht fassen, was mit ihrer Tochter Antonia* geschieht. Sie ver­än­dert sich, zieht weite Jeans an, schneidet sich ihre Haare kurz. Dann trifft sie die Erkenntnis: Ihre Tochter ist ein Sohn und tran­si­dent. Doch wie geht man damit um?

„Was mache ich, wenn meine Tochter eigent­lich ein Sohn ist?“

Ich werde die Blicke der ganzen Ver­wandt­schaft nie­mals ver­gessen. Ja, ich wäre am liebsten im Erd­boden ver­sunken und das an einem so beson­deren Tag. Es war ein­fach grau­en­voll. Da stand er, Anton*, im strah­lend blauen Rüschen­kleid und hoch­ha­ckigen, wun­der­schönen creme­far­benen Pumps. Man sah ihm seine Ver­zweif­lung sicht­lich an. Denn eigent­lich wollte er einen schwarzen Anzug anziehen. Doch ich hatte jede Dis­kus­sion sofort abge­wendet. Meine Tochter will an ihrem großen Tag einen Anzug tragen? Sowas machen doch nur Jungs. Was wird bloß die Familie denken? Alle waren an dem Tag zusam­men­ge­kommen, um mit Antonia ihre Kon­fir­ma­tion zu feiern. Doch was damals noch keiner wusste: Aus meiner Tochter Antonia sollte mein Sohn Anton werden ...

Das sagt die Psycho- und Sexualtherapeutin Bettina Brückelmayer

Claudia vermutete vor dem Outing zunächst, dass Antonia lesbisch ist. Hat Transidentität auch gleich etwas mit der Sexualität zu tun?

Nicht unbe­dingt. Die Sexua­lität ist an sich unab­hängig davon, ob man sich im fal­schen Körper fühlt. Ein Trans­mann als auch eine Trans­frau kann nach dem Outing sowohl hetero‑, homo- oder bise­xuell sein. Oder keins der drei. Alles ist mög­lich. Oft­mals wird aber eine Tran­si­den­tität eben nicht sofort erkannt und damit abge­stem­pelt, dass die betrof­fene Person les­bisch oder schwul ist.

Wenn ein Mädchen plötzlich Jungskleidung anzieht, hören Betroffene oftmals „Das ist nur eine Phase“ – was halten Sie von dem Spruch?

Den Spruch würde ich in jedem Fall unter­lassen. Prin­zi­piell zeigen Kinder oft­mals gegen­ge­schlecht­li­ches Ver­halten auf. So zeigen Mäd­chen Inter­esse an Sport und Rau­fe­reien und haben viel­leicht keine Lust, weib­liche Rollen bei „Vater und Mutter-Spielen“ zu über­nehmen oder haben auch weniger Inter­esse an Puppen. Auch Jungs können sich mit eher mäd­chen­spe­zi­fi­schen Dingen beschäf­tigen. Sie sind gerne mit Mäd­chen bei­sammen und tragen gerne Frauenkleider.

Dieses Ver­halten zeigt jedoch keine sexu­elle Erre­gung. Dieses Ver­halten bei Kin­dern kann in der Ado­les­zenz, also mit Ende der Jugend, auch nach­lassen und es ent­wi­ckelt sich nicht immer zum Trans­se­xua­lismus. Viele weisen später eine homo­se­xu­elle Ori­en­tie­rung auf.

Dann gibt es auch noch den „Trans­ves­ti­tismus unter Bei­be­hal­tung beider Geschlech­ter­rollen“. Hier wird nur gegen­ge­schlecht­liche Klei­dung getragen, das nennt sich cross-dres­sing. Den Wunsch einer Geschlechts­an­glei­chung gibt es nicht. Es geht hier nur um die zeit­wei­lige Erfah­rung der Zuge­hö­rig­keit zum anderen Geschlecht. Aber solche Sprüche würde ich wirk­lich strei­chen. Denn es ist keine Phase.

Wie sollte man sich als Elternteil verhalten, wenn sich das eigene Kind als trans outet?

Wenn das Kind nun den Mut fasst und sich und anderen ein­ge­steht: „Ich bin im fal­schen Körper gefangen“, dann sollte das Kind auch wirk­lich ernst genommen und ihm zuge­hört werden. Man sollte ein­fühlsam sein und auch mal nach­fragen: „Wie fühlt es sich denn an?“

Außerdem würde ich als Eltern­teil nach einem The­ra­peuten oder Psy­cho­logen suchen, der dem Kind dann wei­ter­helfen kann bei der ent­schei­denden Phase. Auch wenn es um das Thema Geschlechts­an­pas­sung geht. Und dann auch mit dem Kind dort hin­gehen und zeigen: Ich bin da für dich.

Für die Eltern gilt es dann, die Tran­si­den­tität des Kindes anzu­nehmen und sich auch nicht zu fragen: „Habe ich etwas falsch gemacht?“ Denn dem ist ein­fach nicht so. In den meisten Fällen ist Tran­si­den­tität natür­li­cher Herkunft.

Was macht man als Mutter oder Vater, wenn es aus dem Verwandtenkreis negative oder gar transphobe Kommentare hagelt?

In den Fällen, die ich bisher betreut habe, hat das nähere Umfeld bisher über­wie­gend immer gut reagiert. Aber wenn Ver­wandte trans­phobe Kom­men­tare äußern und mein Kind wäre betroffen, wollte ich diese Men­schen nicht mehr in meiner und vor allem in der Nähe meines Kindes haben. Freun­des­kreise ver­än­dern sich häufig schon, aber die direkte Familie nimmt das Outing fast immer gut auf. Bis auf einen Fall, in dem die Mutter eines tran­si­denten Men­schen völlig auf­ge­löst und über­for­dert zu mir kam und auch meinte, das gehe gar nicht und wenn das raus­komme, müsse die Familie auch das Dorf ver­lassen, in dem sie leben.

Wie gehen Sie in Ihren Therapiesitzungen auf Betroffene ein?

Ich stelle vor allem essen­zi­elle Fragen wie: „Wie stellst du dir das Leben mit dem anderen Geschlecht vor?“ Aber ich beschäf­tige mich auch in den Sit­zungen mit The­ma­tiken wie „Gehe ich nun auf die Damen- oder Her­ren­toi­lette?“ Außerdem begleite ich die tran­si­dente Person auch bei den Fragen: Wann und wie nehme ich eine Namens­än­de­rung im Pass vor, bis hin zur Hormontherapie.

Wie lange dauert eigentlich im Schnitt der Prozess der Transition, also der Weg des Übergangs?

Das kann ganz unter­schied­lich sein und hängt immer von der betrof­fenen Person ab. Manche wollen etwa nur eine Namens­än­de­rung, andere gleich eine Hor­mon­the­rapie und wieder andere wollen auch eine geschlechts­an­glei­chende Ope­ra­tion voll­ziehen. Es ist so viel Zeit not­wendig, bis die Betrof­fenen bereit sind für alle Schritte. Durch­schnitt­lich kann man ganz grob sagen, dass der Pro­zess etwa drei bis vier Jahre dauern kann. Man kann aber auch sagen, dass es besser ist, wenn man den Pro­zess – also die Hor­mon­the­rapie alters­mäßig so früh wie mög­lich beginnt.

Wieso? Gibt es etwa mit zunehmendem Alter ein höheres Risiko?

Es gibt an sich kein Risiko außer, dass man es später viel­leicht bereut. Auch nicht alters­be­dingt – eher, dass es das Umfeld viel­leicht schwie­riger auf­nimmt, weil man viel­leicht schon ver­hei­ratet ist oder Kinder hat.

Wenn man einer Hor­mon­the­rapie ins Auge fasst, sollte man nur im Hin­ter­kopf behalten, dass man Stim­mungs­schwan­kungen bekommen kann. Bei der Ein­nahme von Tes­to­steron – also bei der Tran­si­tion von Frau zum Mann – spürt man womög­lich, dass man aggres­siver wird. Hin­gegen kann es beim anderen Fall, also wenn Mann zur Frau werden möchte und Östrogen ein­nimmt, zu Depres­sionen führen.

*Anmer­kung: Namen von der Redak­tion geändert

Link zum gesamten Bei­trag auf Lie­bens­wert: https://​www​.lie​bens​wert​-magazin​.de/​s​c​h​i​c​k​s​a​l​-​d​e​r​-​w​o​c​h​e​-​m​e​i​n​e​-​t​o​c​h​t​e​r​-​w​i​l​l​-​e​i​n​-​j​u​n​g​e​-​s​e​i​n​-​1​0​0​0​0​.html